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Berufsverband der Präventologen e.V.

Verband

Die Bedeutung der Corona Pandemie für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft


09. November 2020, 16:20
PRESSEMITTEILUNG/PRESS RELEASE

Ellis Huber, 9.11.2020 - Mehr als zwei Millionen Todesfälle durch Covid-19, über 80 Millionen gemessene Infektionen mit dem Sars-Cov-2 Virus und über 800 Millionen real infizierte Menschen sind weltweit bis zum Jahresende 2020 durchaus im Bereich des Möglichen.

Die Corona Pandemie übertrifft mit ihrer Wirkung die meisten einzelnen Seuchen der letzten hundert Jahre. Nur die Spanische Grippe von 1918-20 war schlimmer und die Tuberkulose tötet gegenwärtig immer noch mehr Menschen. Insgesamt 160.000 Menschen sterben weltweit jeden Tag, also etwa 58 Millionen pro Jahr und darunter aber auch 12 Millionen durch die verschiedenen Infektionskrankheiten. Die Corona Pandemie verursacht mit täglich ca. 8.000 Todesfällen, auch wenn es noch schlimmer kommt, nur 5% der Todesfälle insgesamt und weniger als 20% des gesamten Sterbens durch Infektionskrankheiten. Corona beschäftigt und beängstigt gegenwärtig aber so sehr, dass die anderen Todesgefahren wie verdrängt erscheinen. Das Corona Virus wirkt als kulturelles Ereignis und offenbart dabei die Widersprüche der globalen Lebenswelten. Die Pandemie zwingt die Menschheit zu einer grundlegenden Neuorientierung, die Albert Einstein stimmig so formuliert hat: „So sehe ich für den Menschen, will er die Zukunft seines Geschlechtes sichern, die einzige Chance darin, dass er zwei ganz einfache Einsichten endlich praktisch beherzigt: dass sein Schicksal mit dem der Mitmenschen in allen Teilen der Erde unlösbar verbunden ist und dass er zur Natur und diese nicht ihm gehört.“ Die Corona Pandemie übermittelt der Menschheit eine eindeutige Botschaft: respektiert die Grenzen der Natur und der natürlichen Ressourcen und pflegt künftig eine nachhaltige Lebens- wie Wirtschaftskultur. Mutter Erde muss überleben können, wenn wir selbst überleben wollen. Das Virus markiert also eine Zeitenwende. Wir brauchen neue Antworten: Wie wollen wir miteinander leben, wie wirtschaften und Gesellschaft bilden? Wie können wir weltweit kooperieren und allen Menschen mit Würde und Achtung begegnen? Darüber reflektiere und informiere ich mit einem vierteiligen Artikel zu den verschiedenen Aspekten einer notwendigen Neuorientierung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.

Teil I bewertet die Corona Krise und formuliert die übergreifenden Ziele und Aufgaben, die mit der Corona Pandemie einhergehen, beschreibt die Herausforderungen der Zeitenwende und die notwendigen sozialen Innovationen.

Teil II reflektiert die Bedeutung des Corona Virus für das Leben und das Sterben in unserer Welt. Was lehrt uns die Corona Pandemie und wie sind lernende Gesellschaften und demokratische Verhältnisse politisch zu führen?
Teil III beschäftigt sich mit den Krankheitserregern, die wir kennen und mit der Natur von Pandemien, die über uns gekommen sind und auch künftig kommen werden. Wie hängen individuelle und soziale Gesundheit miteinander zusammen und wie lassen sich die Gesundheitsgefahren unserer Welt wirksamer und nachhaltiger bewältigen.
Teil IV entwirft Grundprinzipien für Gesundheitssysteme und Wirtschaftskulturen, die den Menschen dienen und unsere Menschlichkeit stärken. Wie gestalten wir gesunde Gesellschaften und wie orientieren wir uns neu zwischen Ethikzielen und Profitinteressen? Die Zukunftsperspektiven einer Gemeinwohlökonomie und einer Gesunden Marktwirtschaft formulieren dabei Visionen, die eine pandemiefördernde Gesellschafts- und Wirtschaftskultur überwinden helfen. Welche Heilkunst für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft können wir in Theorie und Praxis realisieren?

Eine Literaturliste und Hinweise zu den in den Texten angesprochenen Informations- und Kommunikationsportalen ergänzen als Anhang die Ausarbeitung mit ihren vier Teilkapiteln.

Teil I
1 Krankheit und Sterben gehören zum Leben
1.1 Mit dem Corona Virus leben lernen
1.2 Die Politik der Angst überwinden
1.3 Globale Regeln und kommunales Handeln umsetzen
1.4 Es ist eine Herausforderung der Natur, aber keine Menschheitskatastrophe
1.5 Politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Umdenken steht an
1.6 Ein Weckruf für die freie Welt
1.7 Lebensrisiken, Lebewesen und Gesunde Gesellschaften

1 Krankheit und Sterben gehören zum Leben

Die Corona Pandemie beschäftigt alle Staaten der Welt. Am Schlimmsten leiden daran die Menschen in Amerika und Europa. Peru mit 108 Todesfällen auf 100.000 Einwohner ist am stärksten betroffen. Bolivien, Brasilien, Chile, Ecuador, Mexiko, Argentinien und die USA verzeichnen jeweils über 70 Todesfälle auf 100.000 Einwohner. Europa erlebt die erwartete zweite Welle der Corona Pandemie in einem nicht erwarteten Ausmaß und früher als vorhergesehen. Belgien trifft es mit 104 Todesfällen auf 100.000 Einwohner besonders hart. Spanien meldet 78, Großbritannien 71, Italien 65, Schweden 58, Frankreich 56, die Schweiz 28 und Deutschland und Österreich nur 13 Todesfälle auf 100.000 Einwohner. Die Zahl der gemessenen Infektionen steigt überaus stark und übertrifft diesen Herbst in vielen Ländern deutlich die Werte aus dem Frühjahr. In Europa sterben jährlich im Durchschnitt 1.070 Menschen auf 100.000 Einwohner. Die Corona Todesfälle sind damit im Vergleich einzuordnen und liegen bei 2 bis 10 Prozent der üblichen Sterberaten.

Die großen Metropolen entwickeln sich zu Hotspots des Infektionsgeschehens mit Corona. Städte wie London, Brüssel, Madrid, Paris, Rom, Prag und Wien oder Berlin, Hamburg, Frankfurt, Köln und Bremen sind Treiber der Ausbreitung von Sars-Cov-2 Viren. Fast 300.000 Todesfälle in Europa und deutlich mehr als das Vierfache, über 1,3 Millionen werden jetzt weltweit mit der Corona Pandemie in Zusammenhang gebracht und bis zum Jahresende kann sich diese Zahl durchaus verdoppeln oder gar verdreifachen. Mehr Todesfälle durch Pandemien mit Viren seit 100 Jahren brachten nur die Spanische Grippe 1918-20 und seit 1980 AIDS und HIV mit sich. Die Asiatische Grippe 1957-58, die Honkong Grippe 1968-70 und die Influenza Pandemie 2017-18 waren vergleichbar schrecklich. Am schlimmsten aber wütet weltweit immer noch die Tuberkulose mit 1,5 Millionen und das HIV-Virus mit 1,7 Millionen Todesfällen. Und: im laufenden Jahr sind bereits, nach den Daten der „worldometer“ Statistiken, mehr als elf Millionen Menschen an anderen Infektionskrankheiten gestorben, gegen die es durchaus wirksame Medikamente und Impfungen gibt (https://www.worldometers.info).

Diese Tatsache ist den Menschen kaum bewusst: Mit dem Corona Virus geht nur ein kleiner Teil des alltäglichen Sterbens der Menschen einher. In Belgien sind in diesem Jahr 11,3 Prozent, in Spanien 9,2, in Großbritannien 7,9, in Schweden 6,7, in Italien und Frankreich 6,3 und in Österreich nur 1,4 und in Deutschland 1,2 Prozent der Sterbefälle mit dem Corona Virus verknüpft. Wie haben gelernt, mit unterschiedlichsten Infektionskrankheiten und anderen tödlichen Ereignissen, mit unserer Sterblichkeit und den vielfältigen Lebensrisiken zu leben und wir werden auch lernen, mit dem Corona Virus zu leben. Dieser Lernprozess steht als politische wie gesellschaftliche Herausforderung an und solange der Anteil des Sterbens durch die Covid-19 Krankheiten unter einem Zehntel des normalen Sterbens liegen, ist die damit verbundene Angst und Panik relativ im Bezug zu den 90 Prozent anderer Todesursachen zu sehen. Corona ist eine von vielen Bedrohungen des Lebens. Die Risikokommunikation zur Corona Pandemie sollte das immer wieder transparent machen, damit Angst, Panik und die Emotionen eines individuellen wie sozialen Kontrollverlustes als krankmachende Faktoren minimiert werden.

1.1 Mit dem Corona Virus leben lernen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht vom „Unheil“, das wie eine Naturkatastrophe über uns gekommen sei. Die Ausbreitung von Infektionskrankheiten ist aber von menschlichen Verhaltensweisen und sozialen Verhältnissen abhängig. Für Europa waren bisher die Schrecken tödlicher Infektionen in fernen und armen Ländern angesiedelt, also weit weg. Jetzt erscheint die Lage plötzlich überaus dramatisch und bedrohlich. Im Frühjahr hat der damit einhergehende Schock diszipliniert und beschützend gewirkt. Die Regeln waren für die meisten Menschen einsichtig und akzeptabel und der ganze Europäische Kontinent erlebte von Land zu Land unterschiedliche Lockdowns und Shutdowns. Die im Lauf des Jahres gemachten Lern- und Lehrprozesse führten zu mehr Wissen, mehr Verständnis und mehr Sicherheit im Umgang mit den realen Corona Gefahren. Kritik an der Risikokommunikation, an einer überzogenen Angstmache oder einer autoritativen Politik konnte auch geäußert werden und viele fachkundige Personen wie Organisationen engagierten sich. Die Nationale Akademie der Wissenschaften, die Leopoldina beteiligte sich mit differenzierten Positionspapieren ebenso wie das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. oder ein Kreis von Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten um die ehemaligen Gesundheitsweisen Matthias Schrappe und Gerd Glaeske und dem Vorsitzenden des BKK-Dachverbands Franz Knieps.

Viele Experten plädieren immer noch für eine breite gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatte über geeignete Präventionsmaßnahmen und beklagen die einseitige Positionierung der Politik auf das Virus und die Virologen. Die Dritte Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina mahnte beispielsweise: „Bereits bestehende globale Herausforderungen wie insbesondere der Klima- und Artenschutz verschwinden mit der Coronavirus-Krise nicht. Politische Maßnahmen sollten sich auf nationaler wie internationaler Ebene an den Prinzipen von ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit, Zukunftsverträglichkeit und Resilienzgewinnung orientieren.“ Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin hinterfragte die Teststrategie und kritisierte, dass nicht täglich gemessen und berichtet wird, wie viele Patienten wegen einer Pneumonie durch andere Erreger ins Krankenhaus oder auf eine Intensivstation kommen. In Deutschland erkranken nämlich jedes Jahr 660.000 Menschen an einer ambulant erworbenen Pneumonie“ und 40.000 Menschen oder 49 auf 100.000 Einwohner versterben daran. „Die ambulant erworbene Pneumonie wird durch verschiedenste Erreger verursacht, vor allem Pneumokokken und Influenza, und ist als hochkontagiös zu betrachten. Ähnlich wie bei Covid-19 sind vor allem ältere Menschen betroffen und gefährdet.“ Diese Beispiele eines offenen Diskurses über Sinn und Nutzen der gesellschaftlichen Umgangsformen sind Bestandteil einer Lernenden Gesellschaft und Vorrausetzung für die Übernahme von individueller Verantwortung und die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger zu sozialer Verantwortlichkeit.

Das Virus ist nichts, der betroffene Mensch und seine Lebenswelt sind alles. Dieser Satz fasst die Erkenntnisse der Medizin und der Gesundheitswissenschaften im Umgang mit Pandemien, Epidemien und Infektionskrankheiten zusammen. Mit der Antwort des individuellen Menschen und der jeweiligen Gesellschaft auf einen Krankheitserreger entscheidet sich auch die Gefährlichkeit und Auswirkung des Sars-CoV-2 Virus. Die psychosozialen Auswirkungen der Pandemie und die Psychodynamik der interagierenden Kräfte werden jetzt in der zweiten Welle vernachlässigt. Der einflussreiche Virologe Christian Drosten rät in einem Interview in der Neuen Osnabrücker Zeitung: „Am besten wäre es, wir täten alle so, als wären wir infiziert und wollten andere vor Ansteckung schützen“ oder: „Wir tun so, als wäre der andere infiziert und wir wollten uns selbst schützen. Daraus ergibt sich unser Verhalten.“ Er beschreibt so ein individuelles Verhalten, das jeden Menschen als gefährlich einordnet und soziale Begegnungen unter Menschen als Bedrohung empfindet. Es ist der Tod allen sozialen Lebens, wenn der Kampf gegen das Virus absolut gesetzt und die gesundheitsförderliche Bedeutung des sozialen Miteinanders nicht mehr gesehen wird. Dieses Denken und Verhalten entfremdet die Menschen voneinander und atomisiert die Gesellschaft. Wut, Aggressionen und Depressionen, Angst und tiefe Verunsicherung sind die emotionalen Folgen der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse. Kritische wie nachdenkliche Stimmen finden kein Gehör mehr und die Sehnsucht nach einer harten Hand wird übermächtig.

Das Netzwerk Evidenzbasierte Medizin wird dann ebenso der Verharmlosung des Corona Virus bezichtigt wie die beiden Epidemiologen Hendrik Streeck und Jonas Schmidt-Chanasit, die gemeinsam mit Ärzteverbänden neue Vorschläge zur Bewältigung der Pandemie entwickelt haben. Die Politik und die Öffentlichkeit fordern eine Wissenschaft, die Wahrheit schenkt und Sicherheit gibt. Neugieriges Suchen oder zweifelnde Fragen, die wirklichen Quellen wissenschaftlicher Erkenntnis, werden als unpassend und störend abgewehrt. Wer Maßnahmen hinterfragt sieht sich plötzlich als Häretiker ausgegrenzt und zu den Corona Leugnern ausgestoßen. Die aggressive Stimmung in der Öffentlichkeit erlaubt nur ein richtig oder falsch und ein gut oder böse. Die Fronten verhärten sich und ein dialogisches Abwägen gilt als moralisch verwerflich. Diese Spaltungsprozesse in der Gesellschaft verursachen dauerhaften Stress und der schwächt die individuelle wie soziale Resilienz, wird also zum eigenständigen Krankheitsfaktor, der die Anfälligkeit für viele, auch tödliche Krankheitsereignisse erhöht. Jürgen Windeler, der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) artikuliert die Probleme einer wissenschaftlichen Dogmatik in der Süddeutschen Zeitung am 29.10.2020 zutreffend: „Tun wir nicht so. als wüsste jeder von uns allein den richtigen Weg – oder als gäbe es ihn überhaupt. Wir müssen nicht alle einer Meinung sein, aber wir könnten uns über die Art der Auseinandersetzung verständigen und wir könnten uns wenigstens zuhören. Das ist im Übrigen der erfolgreichste Weg, den Verschwörungsextremisten die Unterstützung zu entziehen.“

Die zweite Welle der Corona Pandemie reaktiviert gegenwärtig alle Angst auf das Neue und der „Wellenbrecher-Lockdown“ fixiert die Wahrnehmung mit aller Macht auf das Virus. Die Botschaft der Pandemie an die Menschen wird verdrängt, indem das Virus als Botschafter dämonisiert und dann mit aller Macht bekriegt wird. Bundeskanzlerin Angela Merkel fordert die Menschen eindringlich auf, soziale Kontakte weitestgehend einzuschränken und möglichst wenig zu reisen: "Ich bitte Sie: Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend notwendig ist. Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an Ihrem Wohnort." Mit den zögerlichen Reaktionen in einzelnen Bundesländern ist sie sichtlich unzufrieden. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder spricht vom "Kontrollverlust" in einigen Regionen und die Landesregierung von Baden-Württemberg ruft die höchste Corona-Alarmstufe aus. Bundesärztepräsident Klaus Reinhardt warnt vor Angstmache: "Ich glaube, dass diese Vorstellung, dass man dieses Virus ganz vertreiben kann, eine irrige ist." Man müsse lernen, mit einer Zunahme der Infektionszahlen umzugehen. Damit erntet er dann ebenso wüste Beschimpfungen wie andere Fachleute, die zu einer gelassenen und relativen Risikoanalyse auffordern. Angela Merkel wirkt wohltuend integrativ und zeigt dabei auch die Ambivalenz zwischen einer autoritativen und partizipativen Politik oder einem zentralen Regelungszwang und dem Vertrauen auf die bürgerschaftliche Selbstorganisation vor Ort.

1.2 Die Politik der Angst überwinden: Reinventing Politics

Die Entscheidungen und Maßnahmen der Regierungsrunde von Ministerpräsidenten und Kanzlerin wirken in ihrer paternalistischen Fürsorgehaltung eher hilflos als souverän. Reiseverbote oder Beherbergungsverbote für Familien und Freunde, die sich an die Grundregeln halten, ändern ebenso wenig an den Infektionsgefahren wie Sperrstunden für Restaurants und Bars, die ein wirksames Hygienekonzept umsetzen. Das ist den Menschen, die achtsam und verantwortlich mit den Situationen umgehen, nicht mehr verständlich und für manche Gerichte auch nicht mehr verhältnismäßig. Autonome Bürgerinnen und Bürger empfinden die Politik der Angst und Drohung als respektlose Bevormundung und als Missachtung ihrer eigenen Handlungsbereitschaft. Der Ärger steigt und die Akzeptanz der Maßnahmen bröckelt. Ein ungeschicktes Strategiepapier aus dem Innenministerium, das zu Beginn der Pandemie Angst und Schockierung als einen Hebel zur Bürgerfolgsamkeit propagierte, wirkt immer noch nach. Die Gesellschaft sucht immer noch nach einem demokratischen Weg des kooperativen Miteinanders. Der überwiegende Teil der Bevölkerung hält sich an vernünftige Regeln und das ist zur Bewältigung der Pandemie hinreichend. Nur mit den Menschen, nicht für sie oder über sie hinweg gelingt das notwendige Maß an Solidarität und die konsequente Kontaktverfolgung. Das kann kein Gesundheitsamt für die Leute machen, das braucht die bürgerschaftliche Selbstorganisation.

Große Familienfeiern, laute Bierfeste und wilde Partys unterbleiben dann, wenn die Menschen es einsehen können. Sinn und Zweck von Regeln zur Infektionsvermeidung sind von den Lebenswelten abhängig und auf örtlicher Ebene muss daher entschieden werden, welche Maßnahmen sinnvoll und wirksam sind. Das Berchtesgadener Land wird in den Lockdown geschickt. Den Menschen vor Ort ist das aber alles zu schnell, zu radikal, zu extrem und auch nicht verständlich. Schul- und Kindergartenschließung erachten sie als völlig überzogen. Die bekannte Skiläuferin Hilde Gerg vermietet Ferienwohnungen und sagt: „Vielleicht muss man sich auch einfach trauen, etwas mutiger zu sein, etwas positiver und nicht mit so viel Angst. Natürlich ist es logisch: Das Sicherste ist, alles zuzumachen. Wenn man ein kleines Kind betreut, und es lernt gerade laufen, dann setzt man es ja auch in einen Laufstall, weil es das Sicherste ist. Wir müssen einfach Lösungen finden, mit diesem Virus zu leben – denn so, wie es aussieht, wird es uns leider noch länger verfolgen.“ Also: Laufstallpolitik erreicht die Menschen nicht.

Weitere Regionen werden nun in den verschärften Lockdown geschickt und in Deutschland ist der Messwert von 50 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner (7 Tage Inzidenz) längst überschritten. Die Strategie auf der Basis von Lockdowns und amtlicher Kontaktverfolgung ist unmöglicher geworden. Eine Politik mit harter Hand und autoritärem Gestus muss scheitern. Es braucht eine Strategie, die mit den Menschen arbeitet und ihre Handlungsbereitschaft würdigt. Ärzte, Gesundheitsämter, Bürgermeister und Landräte wissen am besten, wie die Menschen vor Ort ticken und dort können die notwendigen Regeln entsprechend der Infektionsrealität und den regionalen Gegebenheiten sinnvoll und überzeugend durchgesetzt werden. Sozial individuell, situativ angepasst, kreativ vermittelt, also lebensnah und pragmatisch gelingt das Leben mit dem Virus.

Grenzwerte wie 35, 50 oder 100 Neuinfektionen auf 100.000 oder gelbe, rote und dunkelrote Schwellen als Auslöser für strenge Vorgaben sind nicht vernünftig, da symptomlose Virusträger nicht gemessen werden. Auch die wirkliche Infektiosität der einzelnen Menschen wird nicht berücksichtigt. Wo viel gemessen wird, sind die Zahlen auch höher. Große Viruslast bei einer Person infiziert auch mehr. „Haben wir nach 6 Monaten Pandemieerfahrung keine andere Strategie parat? Ich leugne dieses Virus und die möglichen katastrophalen Folgen nicht, im Gegenteil. Aber alle Systeme auf null zu fahren kann auf Dauer nicht erfolgreich sein“, sagt Hilde Gerg auf Instagram. Das spricht den Menschen aus dem Herzen. Der Geist einer autoritativen Politik muss jetzt durch eine partizipative politische Führung abgelöst werden. Bundesregierung und Landesregierungen sollten der kreativen Kunst der Selbstorganisation, dem sozialen Verantwortungsempfinden und der aktiven Mitmenschlichkeit der Bürgerinnen und Bürger mehr vertrauen und „Reinventing Politics“ als ein gangbares Bewältigungskonzept erkennen lernen.

1.3 Globale Regeln und kommunales Handeln umsetzen

Die allgemeinen Verhaltensweisen zur Bewältigung von Pandemien sind klar: Soziale Kontakte meiden, Abstand halten, Masken sinnvoll und wissenschaftlich begründet nutzen, Hygiene pflegen, Räume lüften, die Möglichkeiten der Informationstechnologie (Corona App beispielsweise) kreativ einsetzen und sich bei Infektionen zurückziehen. Diese Punkte definieren die global gültigen und immer schon wirksamen Regeln, die nun lokal mit Handlungskompetenz erfüllt werden müssen. Dass die Freiheit im Westen zu einem Risiko und die chinesische Unfreiheit zum Schutz wird, ist die wirkliche Herausforderung für die Europäischen Länder. Demokratie braucht neue Ordnungskulturen von lokalem und individuellem Handeln in sozialer Verantwortung. Diktaturen können die Menschen zwingen, sie mit Gewalt führen und als Rädchen dem allmächtigen Staat unterordnen. Demokratie muss die Handlungskompetenz des einzelnen in seinen sozialen Gemeinschaften stärken und ausbauen, braucht Politiker, die mit Sinn und Werten führen und die bereit sind, den Menschen auch zu vertrauen.

Die Corona Pandemie betrifft jetzt die europäischen Länder besonders hart und in allen Staaten nehmen die aktuellen Schwierigkeiten zu. In den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Tschechien wirkt die Lage außer Kontrolle geraten. Die Weltgesundheitsorganisation WHO ist beunruhigt über die Infektionszahlen in Europa. Die täglichen Neuinfektionen ebenso wie die der Krankenhaus-Einweisungen steigen an. Die Lungenkrankheit Covid-19 stehe inzwischen an fünfter Stelle der Todesursachen, die Schwelle von 1.000 Todesfällen täglich sei überschritten. Die Angst breitet sich europaweit aus und das Virus beeinträchtigt nachhaltig und überall das soziale Leben. Österreich verschärft die Maßnahmen drastisch: Obergrenzen von sechs Personen bei privaten Zusammenkünften in Gebäuden und von zwölf Menschen im Freien. Das gilt auch für Yoga- und Tanzkurse, Geburtstagsfeiern, Hochzeiten und Vereinstreffen. Solche Vorgaben zum lokalen Handeln sind nützlich, aber nicht mit Gewalt durchzusetzen. Die dunkelrote Schwelle von 100 Infektionen auf 100.000 Menschen in Bayern bedeutet 1 Infektion auf 1.000 Bürgerinnen und Bürger. Sollen Dörfer mit 2.000 Einwohnern abgeschottet werden, wenn 2 positive Messungen auftauchen oder ein Ministerium mit 1.000 Mitarbeitern in den Lockdown geschickt werden, wenn die Leitung Corona positiv ist?

Die Entwicklung der Infektionswellen mit dem Corona Virus erscheint jetzt noch unberechenbarer und Gefühle der Hilflosigkeit und des Kotrollverlustes machen sich noch mehr breit. Corona ist so beängstigend und auch verstörend, da das Virus die entwickelten und reichen Staaten überrollt. Bisher waren solche Krankheiten das Problem der fremden Länder und unsere entwickelte Medizin schützte uns wirksam gegen alle Infektionskrankheiten. Diese existentielle Sicherheit ist plötzlich zerbrochen und der Tod durch das Virus steht jetzt gefühlt vor der Tür. Sars-CoV-2 ist aber kein „Killervirus“ und es gibt viel bedeutsamere und gut vermeidbare Todesursachen in Europa, Amerika oder Asien. Afrika kommt mit dem Corona Virus sogar relativ gut zurecht, nicht aber mit vielen anderen Todesursachen, die wegen der Fokussierung auf die Corona Pandemie nun noch tödlicher sind.

Die Lockdowns, Shutdowns und weitere Maßnahmen gegen die Covid-19 Krankheiten haben die tödlichen Folgen der Corona Pandemie zweifelsohne minimiert. Ob die staatlichen Interventionen und gesellschaftlichen Verhaltensweisen aber eine Über-, Fehl- oder Mangel- Reaktion auf die Gefahren darstellen, ist nicht wirklich klar. Was im März noch richtig und verständlich wirkte, ist jetzt mit den vorhandenen Kenntnissen höchst fragwürdig. Es braucht eine neue Strategie, sagen viele Ärzte im Öffentlichen Gesundheitsdienst, renommierte Wissenschaftler und nachdenkliche Politiker (https://www.monitor-versorgungsforschung.de/news/ad-hoc-stellungnahme-z…). Die wissenschaftlichen Analysen sind weiter widersprüchlich, manchmal interessengeleitet und auch von öffentlichen Emotionen beeinflusst. Die Unterschiede von Land zu Land, global wie national, sind groß und nicht schlüssig zu erklären. Es ist jedoch evident, dass komplexe soziokulturelle Einflüsse wirksam sind und das Virus erst im Verhältnis zu Menschen und Gesellschaften seine Gefährlichkeit entfaltet. Es lässt sich gut verstehen, dass Angst, Unsicherheit und Hilflosigkeit die politischen Prozesse stärker steuern als rationales Wissen und wissenschaftliche Erkenntnis. Virologen verstehen wie Viren funktionieren, sie sehen aber nicht das ganze komplexe Leben. Nur zwei Strategien seien möglich, postulierte Markus Söder in seiner Regierungserklärung am 21.10.2020: Durchseuchung oder Eindämmung, Alles laufen lassen oder hart durchgreifen. Es gibt aber einen dritten Weg meine ich: die Menschen werden befähigt und dabei unterstützt, das Leben mit dem Virus selbstständig zu meistern und die Infektionsraten so gut es geht und möglichst wirksam zu minimieren. Das Konzept setzt auf eine lernende Organisation mit einer lernenden Bürgerschaft, die kontinuierlich Infektionsschutz, Freiheit der Lebensführung, psychosoziale wie ökonomische Auswirkungen der Maßnahmen und die Würde der beteiligten Menschen subsidiär ausbalanciert und in Lebenskultur umsetzt.

1.4 Es ist eine Herausforderung der Natur, aber keine Menschheitskatastrophe

Bald 50 Millionen gemessene Infektions- und 1,3 Millionen Todesfälle vermeldet die Johns Hopkins University (JHU), die als weltweite Referenzplattform akzeptiert und überall genutzt wird (https://coronavirus.jhu.edu/map.html). Die realistische Zahl infizierter Menschen dürfte weit über 500 Millionen liegen. "Unsere derzeit besten Schätzungen ergeben, dass etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung bereits mit diesem Virus infiziert gewesen sein könnten", sagte der WHO-Experte Mike Ryan am 5.10.2020 in Genf. Es wird bei der WHO mit mehr als 700 Millionen unerkannten Infektionen zusätzlich zu den nachgewiesenen Fällen gerechnet. Der Anteil der bereits Infizierten schwankt dabei je nach Land, zwischen Stadt- und Landbevölkerung und nach der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen.

Corona ist also weltweit, in Europa und auch in Deutschland eine ernsthafte Bedrohung für das Leben und die Gesundheit der Menschen. Das Sars-CoV-2 Virus ist da und es wird als Krankheitserreger bleiben. Wir müssen mit ihm und mit an- und abschwellenden Infektionszahlen auf lange Zeit leben. Eine Politik und Medizin, die beim Corona Virus eine Fast-null-Risiko Strategie verfolgen und alle anderen Todesursachen als weniger bedeutend ansehen, sind politische wie medizinische Hybris. Auch zwanzigtausend und noch mehr täglich gemessene Infektionen können auf Deutschland zukommen und durchaus Todeszahlen von 200 bis 400 Menschen pro Tag. Das fällt bei 2.600 Todesfällen täglich nicht aus dem Rahmen eines normalen Sterbegeschehens. Über 400 Todesfälle an einem Tag kommen auch bei anderen Infektionskrankheiten mal vor. Darauf müssen wir uns alle einstellen. Schutzmaßnahmen, die mit Beherbergungsverboten, Sperrstunden oder Alkoholverboten das Unmögliche zu erreichen suchen, sind hilfloser Aktionismus zur Abwehr der eigenen Ratlosigkeit. Pandemisch verlaufende Virusinfektionen verhalten sich immer vergleichbar und die üblichen Abläufe sind durch die Pandemien der Vergangenheit epidemiologisch und auch medizinisch bekannt.

Die zweite Welle ist oft heftiger als die erste und das trifft nun auch auf das Corona Virus zu. Zur Bewältigung der Corona Pandemie und aller Pandemien, die zukünftig noch kommen werden, müssen wir neue soziokulturelle, medizinische und technologische Fertigkeiten herausbilden. Wie können wir mit den neuartigen und auch bekannten Gefahren realistisch und gelassen umgehen? Corona ist eine Herausforderung der Natur, aber keine Menschheitskatastrophe. Hysterische Reaktionsweisen sind ebenso wenig angemessen wie die verharmlosende Leugnung. Beide Reaktionsmuster kommen aber bei Pandemien vor und bringen das soziale Miteinander durcheinander. Nicht nur das Virus, auch die Reaktionen auf den Erreger können Schäden anrichten, die bedrohlich sind und die Gesundheit der einzelnen Menschen wie des gesellschaftlichen Lebens beeinträchtigen. Ein alter Grundsatz der Seuchengeschichte bleibt gültig: die schädliche Wirkung der Kampfmaßnahmen gegen das Virus dürfen nicht schlimmer sein, als die Wirkung des Krankheitserregers selbst. Die politische Kommunikation der Risiken muss gesellschaftlich integrieren, Skeptiker wie Verängstigte integrieren und eine mitfühlende Empathie aufbringen. Die Aggressivität und Spaltungsprozesse im öffentlichen Leben machen Stress und schwächen die individuelle wie die soziale Widerstandskraft gegenüber dem Virus. Die politische Führung sollte die Gesundheitskompetenz der Menschen so stärken, dass sie in ihren Lebenswelten auf das Virus selbst reagieren können.

Corona- ebenso wie Influenza- oder Noroviren und alle anderen Krankheitserreger oder Todesursachen sind nicht einfach zu beseitigen. Mit ihnen zu leben, heißt auch, sie als Möglichkeit des Sterbens im Rahmen von bekannten Todesrisiken zu akzeptieren. In Europa nehmen die Neuinfektionen mit dem Sars-Cov-2 Virus von Land zu Land unterschiedlich, teilweise dramatisch zu. Auch Deutschland erlebt hohe Infektionszahlen. Das Robert Koch Institut (RKI) meldet am 22.10. schon 11. 287, am 5.11. dann 19.990 und am 6.11.2020 eine neue Höchstzahl mit 21.506 neuen Corona-Fälle. Die schweren Verläufe der Covid-19 Krankheit und die dadurch verursachten Todesfälle steigen aber im Vergleich zum Zeitraum März oder April 2020 nicht so gravierend an. Gegenwärtig meldet das RKI zwischen 100 und 200 tägliche Todesfälle durch Covid-19 Krankheiten. Das kann sich in den kommenden Wochen verdoppeln oder verdreifachen. Der bisherige Höchstwert lag am 19.4.2020 bei 231. Das Virus ist in der Bevölkerung inzwischen durchgehend verbreitet und überall können plötzlich neue Ansteckungsschwerpunkte (Cluster) auftreten. Einzelne infizierte und ansteckende Personen verursachen als sogenannte „Superspreader“ auch größere Infektionscluster. Alle Treffen in großen, lauten, engen und räumlich beengten Gruppen sind gefährlich. Viele Infektionsquellen sind jetzt diffus und die Gesundheitsämter können die Kontaktverfolgung nicht mehr durchgehend sicherstellen. Das ist die Realität, mit der wir sozial und medizinisch umgehen müssen. Die klassische Kontaktverfolgung bei allen infizierten Menschen ist nicht mehr möglich. Es braucht einen Risikobezug zur wirklichen Ansteckungslage und mehr Selbstmanagement bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern. Das gelingt mit Informationen und Kompetenzvermittlung besser als durch Drohung, Kriminalisierung oder Gewalt. Die zunehmende Radikalisierung der „Corona-Leugner“ und „Maskenverweigerer“ sind ein Problem, dem durch offene Kommunikation, dialogische Einbindung und Akzeptanz der skeptischen Fachleute präventiv begegnet werden sollte.

1.5 Politisches, wirtschaftliches und gesellschaftliches Umdenken steht an

Der Umgang mit den Gefahren von Pandemien gelingt dann am besten, wenn die einzelnen Menschen individuell wie kollektiv ihre Verhaltensweisen entsprechend ausrichten und selbstwirksam handeln können. Diese Kultur der selbstständigen Verantwortlichkeit erfordert Wissen, Handlungskompetenzen und gegenseitige Rücksichtnahme. Autoritäre Zwangsmaßnahmen und demonstrative Staatsgewalt erscheinen ebenso unsinnig wie die aggressive Ignoranz der Sorglosen. Mit Angst, Strenge oder Schuldzuweisungen gelingt es nicht, die richtigen Verhaltensweisen zu erzwingen. Unzufriedene Jugendliche sind mit Bevormundung nicht zu erreichen und die Methoden einer Rohrstockpolitik sind so weltfremd wie die der alten Rohrstockpädagogik.

Das Virus ist spürbar politisch und wird auch politisch funktionalisiert: es entlarvt individuelle Selbstgerechtigkeit und Hilflosigkeit ebenso wie soziale Verwahrlosung und egoistisches Gebaren. Die Mächtigen und Reichen werden genauso in Frage gestellt, wie die Ohnmächtigen und Armen besonders betroffen sind. Unserer Welt steht politisch, wirtschaftlich und moralisch vor einem grundlegenden Wandel. Die Natur schickt eine Seuche, wenn sich die Gesellschaften neu ausrichten müssen. Die Corona Pandemie stellt unsere Lebensweise auf den Prüfstand. Die Menschen spüren und wissen auch, dass die Zerstörung der Natur und der Lebensräume in den Abgrund führt. Eine grundlegende Neuorientierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wird weltweit schon länger von jungen Menschen eingefordert. Sie wünschen sich Solidarität der älteren Bevölkerung mit den ökologischen Zukunftsperspektiven der jungen Generation. Vertreibung und Flucht, Hunger und Elend, Machtwahn und Geldgier oder mörderische Kriege werden nicht vom Corona Virus gemacht.

„Global Citizen“ nennt sich eine globale Bürgerinnen- und Bürgerinitiative, die sich weltweit für Bildung, Umweltschutz, Gesundheit, sauberes Wasser und sozialhygienische Versorgungsstrukturen einsetzt (https://www.globalcitizen.org/). Die Verwirklichung aller 17 Ziele der Vereinten Nationen für eine nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) sind das umfassende Anliegen der weltweiten Vereinigung.

Die „Fridays for Future“ Bewegung bewegt die Jugend weltweit ebenso. Vier junge Frauen, Greta Thunberg, Luisa Neubauer, Anuna de Wever und Adélaíde Charlier schrieben im Juli 2020 einen Brief an die Regierungschefs der EU und forderten ein neues Wirtschaftssystem. 125.000 Menschen, darunter viele Prominente, unterzeichneten das Schreiben. Über 26.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterstützen erklärtermaßen die Ziele der Jugendbewegung auf Grundlage gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse: „Die derzeitigen Maßnahmen zum Klima-, Arten-, Wald-, Meeres- und Bodenschutz reichen bei weitem nicht aus.“

Papst Franziskus fordert in der aktuellen Enzyklika "Fratelli tutti" eine radikale wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Wende als Antwort auf die Corona-Krise. Die Pandemie fordere gemeinsames Handeln und den kollektiven Willen für ein Verhalten, das mit der Natur und den Menschen würdig umgeht.

Die „Deutsche Allianz Klimawandel und Gesundheit e.V. (KLUG), ist ein wachsendes Netzwerk von Personen, Organisationen und Verbänden aus dem Gesundheitswesen, das den Klimaschutz als Teil der beruflichen Verantwortung versteht und aktiv im Gesundheitswesen umsetzt. Ärztinnen und Ärzte übernehmen Führungsverantwortung für die sozialökologische Transformation der Gesellschaft. KLUG (https://www.klimawandel-gesundheit.de/arztpraxen/) und das von KLUG getragenen Aktionsforum Health for Future (https://healthforfuture.de) treibt den Wandel im Gesundheitswesen voran.

Viele Menschen engagieren sich so für Einsicht in das Notwendige und Veränderungen im weltweiten Zusammenleben. Der Mehrheit in der Bevölkerung und in der Wissenschaft ist längst klar, dass sich Wirtschaft und Staat grundlegend verändern müssen. Das gibt auch Hoffnung in den Corona Zeiten und Zuversicht in den Irren und Wirren der Verhältnisse, die durch das Sars-CoV-2 Virus und die Covid-19 Krankheit in Bewegung gekommen sind. Jetzt geht es um eine nüchterne, ehrliche und realistische Bestandsaufnahme und um die Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft so, dass das Überleben aller Menschen auf dieser Erde gesichert und, was genau so wichtig ist, die Sterblichkeit als ein Teil des Lebens verstanden und angenommen wird. Das Corona Virus mit einem Krieg besiegen zu wollen, ist Illusion. Wir müssen mit seinen Gefahren leben und mit seinen Todesfällen wie bei anderen Krankheitserregern gelassen umgehen.

1.6 Ein Weckruf für die freie Welt

Das Corona Virus wirkt als "Weckruf an die Menschheit“ und fordert eine Wirtschaft und Politik ein, die mit Menschen und der Natur achtsam umgeht und Ehrfurcht vor dem Leben zeigt. Corona ist „eine Prüfung unserer Menschlichkeit“. So sagt es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Europa könnte Zeichen setzen und die Herausforderung anpacken. Die Gesundheitswirtschaft muss dabei die Wunden heilen, die ein entfesselter Turbokapitalismus schlägt und die Gesundheitswesen sind der Schlüssel für eine wirklich bessere Welt. Die Gesundheitswirtschaft muss gegenüber rücksichtslosen Kapitalinteressen immun werden.

Die Corona Krise stellt angesichts der Klima Krise, der gesellschaftlichen Spaltungsprozesse, der Armutskrankheiten, von Hunger und Elend oder von Kriegen und Flüchtlingsproblemen eine überschaubare Herausforderung dar. Corona kann auch helfen, die Prioritäten neu zu setzen und einen globalen Entwicklungsprozess zu beschleunigen. Die Pandemie ist schlimm, aber nicht die schlimmste Bedrohung für Gesundheit und Leben in unserer Gegenwart und Zukunft. Das allgemeine Sterben in Deutschland, in Europa und in der Welt wird durch Corona tatsächlich wenig verändert. Die Einordnung der Corona Zahlen in das alltägliche Sterben vermittelt uns eine realistische Wahrnehmung der Gefahren und hilft gegen Panik und Mutlosigkeit gleichermaßen. Die politischen Reaktionen mit Ordnung, Zucht und Strafe oder mit aggressiver, trotziger und selbstgerechter Demonstration setzen falsche Signale und spalten die Menschen. Das macht auch die individuellen wie sozialen Immunsysteme schwach.

„Gute Ökonomie für harte Zeiten“ lautet der Titel des Buches, das den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2020 erhalten hat. Die beiden Träger des Wirtschaftsnobelpreises 2019,
Esther Duflo und Abhijit V. Banerjee berichten, dass immer mehr Unternehmen ökologisch korrekt, sozial verantwortungsbewusst und in einem guten Managementstil geführt werden. Die „ESG-Kriterien“ (Environmental, Social and Corporate Governance) helfen bei der Bekämpfung von Armut und sozialer Ungleichheit. Und es ginge auch um den Respekt vor der Natur. In einem Interview zur Auszeichnung mit dem Wirtschaftspreis sagt Banerjee: „Wir hoffen, wenn auch weniger als früher, dass uns dieser Moment der Pandemie dabei hilft, zu verstehen, wie alle Dinge voneinander abhängen. Vielleicht kommt das nächste Virus aus den USA, aber es wird auch Europa treffen, Australien und Indien und andere. Die Gründe dafür liegen in der Umwelt. Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir ein gemeinsames Schicksal haben in dieser sehr fragilen Welt. Das wird hoffentlich unsere Art verändern, über Politik zu denken. Wir hoffen, Europa übernimmt die Führung.“

1.7 Lebensrisiken, Lebewesen und Gesunde Gesellschaften

Drei Themenfelder sind in der weiteren Entwicklung bedeutsam: eine realistische Risikobewertung und Risikokommunikation, eine neue medizinische Antwort auf Pandemien, die auf salutogene Orientierung setzt und die Entwicklung gesunder Gemeinschaften und gesunder Wirtschaftskulturen durchsetzt. Das ist Antwortsuche auf die Leitfrage: Was macht Gesunde Gesellschaften aus?

Die weiteren Teile meiner Ausarbeitung analysieren, über die hier im Teil I geäußerten Ziele und Anforderungen hinaus, die wirklichen Lebensrisiken der modernen Welt und zeigen, dass die überbordende Angst vor dem neuartigen Virus verständlich, aber nicht realitätsbezogen ist. Die tägliche Datenflut dramatisiert die Gefahren und produziert Unsicherheiten, wo Gelassenheit nötig wäre. Wenn die Corona Pandemie mit dem realen Sterben in der Welt oder in Deutschland in Bezug gesetzt wird, wird der allgegenwärtige Schrecken relativiert und erträglicher. In Deutschland verursacht die Corona Pandemie etwa zwei Prozent der jährlichen 950.000 Todesfälle. Unter dem Stichwort „Reinventing Politics“ entwerfe ich in Teil II auch eine grundlegende Neuorientierung des gesellschaftlichen Gefüges und ein neues Verhältnis zwischen Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Die Weisheit und Lebenstüchtigkeit eines biologischen Organismus können uns zeigen, wie wir soziale Organismen gestalten sollten. Es geht um neue, aber lebensnahe Organisationskulturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft.

Teil drei beschreibt, dass Viren zum Leben gehören, wie Pandemien kommen und gehen und wie im Wechselverhältnis von Krankheitserregern und den Lebenswelten Gesundheit verteidigt wird oder Krankheit entsteht: Das Virus ist nichts, der Mensch und seine Lebenswelt sind alles. Corona lehrt uns eine neue Kultur des Überlebens und des gelingenden Lebens. Es geht dabei auch um die Chancen der Digitalen Transformation und um eine lebendige Demokratie mit Freiheit und bürgerschaftlicher Autonomie: Selbstorganisation, dienende Führung, Sinn und Werte als Handlungsmaxime sind mögliche und begehbare Wege. Das individuelle und das soziale Leben gehören zusammen und gesunde Menschen brauchen auch eine gesunde Erde. Die ganze Erde ist ein lebendiger Organismus, der aus ähnlichen Bestandteilen wie der menschliche Körper aufgebaut und zur Selbstregulation fähig ist. Die Erkenntnisse aus der Gaia-Theorie der Mikrobiologin Lynn Margulis und des Chemikers, Biophysikers und Mediziners James Lovelock sehen vergleichbare Lebensprinzipien, die beim menschlichen oder biologischen Organismus und beim Leben der Erde gültig sind. Jetzt sollten auch die sozialen Organisationen, Unternehmen und Betriebe ihre Organisationsweisen an lebendigen Prozessen orientieren. Frederic Laloux beschreibt das in seinem Bestseller „Reinventing Organizations“ (Laloux 2016).

Die sozialökologischen und politischen Schlussfolgerungen aus der Corona Pandemie zieht dann Teil vier. Wie können wir die „Prüfung unserer Menschlichkeit“ bestehen und welche Perspektiven eröffnen sich für das Gesundheitswesen? Zwischen Ethik und Profit muss die Gesundheitswirtschaft ihren eigenen Weg finden, sozusagen als Heilmittel gegen den Wachstumswahn und die geldgesteuerte Habsucht der kapitalistischen Wirtschaftskultur. Die Perspektiven einer Gemeinwohlökonomie und einer Gesunden Marktwirtschaft formulieren dazu eine „realistische Utopie“ oder eine machbare Mission: die Corona Krise als Chance für Verhältnisse, die das individuelle und gesellschaftliche Gesundheitspotential optimal entfalten und eine Medizin, die der Gesundheit des einzelnen Menschen und der gesamten Gesellschaft wirklich dient. Der Sinn des Wirtschaftens in unserer Gesellschaft ist der Nutzen für die Menschen und die Sicherstellung eines guten Lebens. Konsumzwang, Protzereien, Schönheitschirurgie oder Statussymbole sind dem nicht förderlich. Die Erfüllung sozialer Bedürfnisse und die persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten sind für ein gelingendes Leben wichtiger. Die Bewältigung der ökologischen Krise braucht mehr soziale Entwicklungen und weniger technische Innovationen, persönliches, nicht materielles Wachstum, die Orientierung an gesellschaftlichen und menschlichen Werten und keine Vergötterung von Geld und Besitz. Das Corona Virus markiert eine Zeitenwende. Die 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals – SDGs) der Vereinten Nationen, die weltweit eine nachhaltige Entwicklung auf ökonomischer, sozialer und ökologischer Ebene anstreben und die allesamt einen Bezug zum Thema Gesundheit haben, formulieren eindrücklich, wohin wir alle streben müssen. Und: es gibt ein Vorbild für Regierungshandeln, das mit dienender Macht regiert und die Menschen einbindet. Autoritäre oder autoritative Politik ist ein falscher Weg. Die Beteiligung der Menschen, vertrauensbasierte Gesellschaft und lernende Gemeinschaften sind die Alternative. Die finnische Regierung zeigt dies eindrücklich und überzeugend: https://twitter.com/FinGovernment/status/1319582170499993600.

„Die Corona-Krise ist nur ein Glied in einer Reihe von Ereignissen, die sich fortsetzen wird. Sie ist die Chance, endlich aufzuwachen, wenn wir ihre Botschaft richtig lesen“, schreibt der Psychoneuroimmunologe und Psychiater Joachim Bauer in seinem neuesten Buch: „Wir sind aufgerufen, uns in unserer inneren Haltung und mit unserem Verhalten gegenüber der Natur neu aufzustellen. Die Natur ist für den Menschen nicht nur ein Lebensraum, sie kann ihm als eine gewaltige medizinische und soziale Ressource dienen. Menschliche Gesundheit, gutes menschliches Zusammenleben und die Bewahrung der Natur stehen in einem Dreiecksverhältnis der Gegenseitigkeit. Die Lebensweise jedes Einzelnen ist für die Menschheit als Ganzes von Belang“ (Bauer 2020).

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