Schützengräben und erstarrte Fronten – diese beiden Metaphern formen bis heute die Vorstellung vom Ersten Weltkrieg. Wolfram Dornik weiß, dass dies eine zu einseitige Perspektive ist: "Diese Bilder stammen vor allem von der damaligen Westfront – dem Fokus des deutsch-, französisch- und englischsprachigen Blicks auf den Ersten Weltkrieg vor und nach 1918. Mit unserem mehrjährigen FWF-Projekt konnten wir diesen einseitigen Blick maßgeblich ergänzen." Ein wesentliches Fazit der umfangreichen Studie: Der Krieg an der Ostfront war weniger entmenschlicht und industrialisiert und viel dynamischer.
Weites Land
Schon die äußeren Umstände bewirkten diese Unterschiede: Deutlich länger als jene gegen Frankreich oder Italien war die Ostfront, und damit auch viel schwieriger zu befestigen. Kampfhandlungen erfolgten oft unmittelbarer oder an wenigen schwer gesicherten Orten. Frontabschnitte verschoben sich regelmäßig. Gleichzeitig gab es im Gegensatz zur Westfront lange Kampfpausen, was für die Soldaten oft den Eindruck einer "ruhigeren" Front mit sich brachte, insbesondere bei jenen, die von der Isonzo- oder der Alpenfront kamen. Doch fehlte es auch in Osteuropa nicht an riesigen Schlachten mit hunderttausenden Toten, Verwundeten oder Kriegsgefangenen. Die Folge dieser militärischen Dynamik: Riesige besetzte Gebiete der gegnerischen Nationen. In diesen führten die Vielsprachigkeit und die unterschiedlichen religiösen Ausprägungen zu heftigen Reaktionen der Beteiligten. Dazu Dornik: "Speziell Soldaten, die aus einer homogenen Gesellschaft im westlichen Teil der Habsburgermonarchie kamen, reagierten darauf sehr sensibel. Misstrauen, Unverständnis und Gewalt gegenüber Zivilisten waren das Ergebnis." Dabei konnte das Forschungsteam die Verstärkung von Antisemitismus, Antislawismus und anderen radikalen Diskursmustern feststellen. "In der Tat," so meint Dornik, "hatte dies entscheidenden Einfluss auf den Diskurs über den 'Osten' in den Jahren zwischen den Weltkriegen. Der Einfluss osteuropäischer Kriegserfahrungen habsburgischer Soldaten auf die zentraleuropäische Gesellschaft darf aus diesem Grund nicht unterschätzt werden."
Widrige Witterung & harte Natur
Neben den zwischenmenschlichen Erlebnissen hinterließ aber auch die Natur einschneidende Erinnerungen bei den Soldaten. Hier dominierten lange Winter mit schweren Schneefällen, verschlammte oder schlecht ausgebaute Straßen, weite Ebenen und schier endlose Wälder, riesige Sümpfe und hohe Gebirge. Organisationstalent der Armeeführung war hier genauso gefordert wie physische und psychische Belastbarkeit der Soldaten. Gleichzeitig, so Dornik, weckte der geradezu endlos wirkende Raum des "Ostens" auch bei einfachen Soldaten koloniale Fantasien.
Multinationale Perspektiven
Grundlage der Erkenntnisse dieses Projekts waren von Soldaten selbst erzeugte schriftliche und bildliche Quellen: Fotos, Tagebücher und Notizen sowie Erinnerungen. Dieser Zugang machte besondere Anstrengungen notwendig, wie Dornik ausführt: "Sowohl das Russische wie auch das Habsburger Reich waren multilinguale Gesellschaften. Unsere Quellen lagen also in vielen Sprachen vor – wir konnten mit über 20 Expertinnen und Experten aus Mittel- und Osteuropa diese Vielfalt bewältigen." Das Forschungsteam musste auch die fragmentierten historiographischen Traditionen und Erinnerungskulturen von fast einem Jahrhundert überbrücken, um ein gemeinsames Diskussionsfeld zu schaffen. Denn nach dem Zerfall der großen Reiche nach 1917/18 dominierte der neue Staatsgründungsmythos. Hier überlagerten der Kampf gegen das vorherige Reich und die noch größere, folgende Katastrophe – der Zweite Weltkrieg und die Shoa – die Erinnerung an die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts.
Wie sehr sich diese Mühen lohnten, konnte das Team schon zur Mitte des Projekts mit der Publikation des Sammelbandes "Jenseits des Schützengrabens" zeigen. In dem international viel beachteten Buch konnten erste Ergebnisse zusammengefasst werden. Für Dornik ein guter und wichtiger Zwischenschritt des mittlerweile mit weiteren Veröffentlichungen beendeten Projekts.
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