Direkt zum Inhalt
Berufsförderungswerk Leipzig gemeinnützige GmbH

Unternehmen

Ich bin froh, mich durch das BFW entwickeln zu können.


09. April 2020, 11:16
PRESSEMITTEILUNG/PRESS RELEASE

Das sagt der 21-jährige Marvin mit einer gewissen Erleichterung. Man erkennt einen gewissen Stolz in seinem Gesicht, dass er es soweit gebracht hat. Der junge Mann mit seinem kurzgeschnittenen braunen Haar steht kurz vor seinem Abschluss als Fachpraktiker für Bürokommunikation. Schon im letzten Jahr erhielt er eine Anerkennung von der Berufsschule für besondere Leistungen. Und wenn die Krise um das Coronavirus ihm keine weitere „Zwangspause“ auferlegt, dann hat er seine 3-jährige Ausbildung im August beendet. Doch der Weg dorthin war nicht so einfach.

Ich bin froh, mich durch das BFW entwickeln zu können.

Marvin ist Autist. Doch wer glaubt, hier hat sich ein junger Rainman ins Berufliche Trainingszentrum am BFW Leipzig (BTZ Leipzig) verirrt, mit einer super ausgeprägten Wissensintelligenz, der wird durch seine Wegbegleiter schnell aufgeklärt. Thomas Eilers ist der Bildungsbegleiter für Marvin und Christin Lippmann arbeitet als Sozialpädagogin u. a. mit den betroffenen Jugendlichen zusammen. Eilers erklärt, dass es nicht den Autisten gibt: „Kennst Du einen Autisten, kennt man einen Autisten.“ Das ist nach seiner Auffassung die richtige Antwort auf die Einordnung dieser neurologischen Entwicklungsstörung. „Rainman, Rizvan Khan aus „Mein Name ist Khan“ oder Sheldon aus Big Bang Theory sind die Filmhelden, die uns Facetten des Autismus nähergebracht haben. Ich würde es als Hyperintelligenz bezeichnen.“ Und daneben stehen viele andere Verhaltensmuster, die mal ausgeprägter und mal weniger erkennbar die Störung beschreiben. So können Menschen mit Autismus soziale und emotionale Signale nur schwer einschätzen. Sie haben Probleme, auf Gefühle anderer Menschen einzugehen oder können mit ihrem Verhalten auf soziale Situationen nicht angemessen reagieren. Inselbegabungen führen nicht zu einer Professur in Oxford oder Harvard. Aber diese Konzentration auf eine spezifische Thematik im Leben zeichnen die Autisten eben nun einmal aus.

„Für uns ist es wichtig, dass Menschen mit Autismus individuell abgestimmte Förderung erhalten“, betont Thomas Eilers. „Das bietet diesen Menschen die Chance, sich angepasst zu entwickeln und in die Gesellschaft integriert zu werden.“ Anderenfalls sind die Karrierewege der Autisten oft vorgeprägt. „Oft werden sie in Lernförderschulen untergebracht und sind dort unterfordert.“ Jedoch zeichnen sich ihre Schwächen im Lernalltag oft ab. Und damit hat man auch am BTZ Leipzig zu tun, berichtet Sozialpädagogin Christin Lippmann: „Autisten fällt es schwer, im Unterricht stillzusitzen, in ihnen macht sich häufiger eine motorische Unruhe breit. Das wird im Unterricht als störend empfunden.“ Die Einstufung in andere Störbilder wie ADHS durch ungeschulte Lehrkräfte ist oft die Folge in unserem Schulsystem. Es sei auch schwer für ungeschultes Personal hier eine klare Abgrenzung und damit eine individuelle Förderung durchzuführen.

Wie viele Menschen, die mit der Entwicklungsstörung aufwachsen und leben müssen, es betrifft, kann niemand so genau sagen. Das Bundesumweltamt spricht davon, dass keine Zahlen über die Häufigkeit von Autismus in Deutschland vorliegen. „Derzeit wird eine weltweite Prävalenz von 0,6 % – 1 % angenommen. Bei Jungen tritt Autismus viermal häufiger auf als bei Mädchen.“ Wie also will man gerade jungen Menschen helfen, sich als Autist im reizüberfluteten Leben zurecht zu finden. „Gerade bei jungen Menschen haben wir die Chance, sie auf viele Dinge in ihrer Umwelt so einzustellen, dass es ihnen leichter fällt, sich zu integrieren“, weiß Thomas Eilers aus seiner täglichen Arbeit im BTZ Leipzig zu berichten.

Er glaube, dass sie bei Marvin den richtigen Zeitpunkt noch abgepasst haben. Den Neueinstieg in die individuelle Leistungsförderung schaffte der 21-Jährige im Oktober 2016. Bis dahin durchlief er keine geradlinige Entwicklung. Probleme in der Familie, der Vater war überfordert mit der Situation, konnte die Störung seines Sohnes nicht erkennen und somit mit ihr umgehen. Schulisch schaffte er nicht, mitzuhalten. Wegen einer Psychotherapie musste die erste Maßnahme zur Berufsvorbereitung abgebrochen werden. Gemeinsam mit der Agentur für Arbeit wurde lange diskutiert, ob Marvin es schaffen könnte, eine Ausbildung zu beginnen. „Aber, wir haben uns durchgesetzt“, berichtet Thomas Eilers stolz. Er wusste aber damals auch, dass die Fachberater bei der Arbeitsagentur viel auf die fachliche Kompetenz des Teams vom Beruflichen Trainingszentrum am BFW Leipzig setzten. „Und das, obwohl wir mit unserem BTZ erst im September 2016 gestartet waren“, ergänzt Eilers. „Die Leute von der Arbeitsagentur hatten Vertrauen, dass wir es schaffen würden, die Vorgängereinrichtung harmonisch ins neue Format zu überführen. Ich glaube, dass wir sie bis heute nicht enttäuscht haben.“ Der Bildungsbegleiter freut sich und blickt stolz auf Marvin, der zur ersten Gruppe gehörte, die 2016 die Berufsvorbereitende Maßnahme am BTZ Leipzig begann.
Es ist ein tägliches Herantasten an alle Jugendliche, die wegen psychischer Erkrankungen die speziellen Maßnahmen der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme (kurz BvB) und der Inklusionsgestützten Erstausbildung (IngE) im BTZ Leipzig belegen.

„Dabei stellen die Autisten eine kleine, aber besondere Gruppe für uns dar“, erklärt Christin Lippmann. „Die Schwierigkeit ist für uns, dass die jungen Leute Besonderheiten in der sozialen Kompetenz aufweisen. Mal mehr, mal weniger. Daher ist eine Integration allein schon in das Trainings- und Ausbildungsprogramm immer wieder herausfordernd.“ Und doch werden die Menschen mit der besonderen Entwicklungsstörung mit den anderen jungen Leuten gemeinsam in Gruppen integriert. „Wir trainieren dadurch die soziale Interaktion und die soziale Kompetenz mit unseren Teilnehmerinnen und Teilnehmern“, sagt die Sozialpädagogin. So fühlen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Autismus angenommen, trainieren mit anderen in einer Kleingruppe von acht bis zehn Personen. Man muss jedoch vieles dabei beachten: „Es braucht eigene Kommunikationsformen in der Stoffvermittlung. Autisten haben Probleme mit der Reizüberflutung, die sie in unserer Welt umgibt. So dunkeln wir die Räume ab, wenn die Sonne zu sehr einstrahlt. Die Arbeitsplatzbereiche bieten weniger Ablenkung. In Lehrbüchern decken wir beispielsweise Bilder zu, um die Konzentration ausschließlich auf die Texte zu lenken“, weiß Christin Lippmann zu berichten. Das erdrücke die junge Leute nicht so sehr. Ablenkung könne demotivieren, so ihre Erfahrungen aus der Praxis. „Es gibt Redewendungen, die verstehen unsere autistischen Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht. Wenn man beispielsweise sagt: ‚Um 18 Uhr werden die Bürgersteige hochgeklappt.‘ Der Autist geht an diese Aussage ganz formal bildlich ran und kann sich ein ‚Hochklappen von Bürgersteigen‘ in seiner Realität nicht praktisch vorstellen. Wir wissen, was damit gemeint ist“, bringt Christin Lippmann eine Episode ins Gespräch mit ein. „Wir filtern also so viel wie möglich weg, was den Autisten stören könnte.“
Der Weg ist der Richtige. Darin sind sich nicht nur Christin Lippmann und Thomas Eilers einig.

Das gesamte multiprofessionelle Team aus Bildungsbegleitern, Ausbildern, Trainern, Sozialpädagogen, Psychologen, Ergo- und Sporttherapeuten kann dem zustimmen. Alle waren in der Ausarbeitung der Konzeption für die spezielle Betreuung der Jugendlichen mit Autismus gefragt. Alle, die mit Autisten im BTZ Leipzig zu tun haben, sind speziell geschult worden und bilden sich fortlaufend weiter. „Für uns ist ein wichtiger Aspekt“, so Christin Lippmann, „dass wir uns mit anderen austauschen. Netzwerken ist unabdingbar.“ Ein Ansprechpartner ist das Autismusnetzwerk. Hier geht es nicht nur um die Jugendlichen im BTZ Leipzig. Man spricht sich untereinander ab, tauscht Erfahrungen aus und blickt in die Zukunft. Denn hier muss es Verbesserungen geben, dass mehr junge Leute wie Marvin eine Chance erhalten, sich mit ihrem Autismus entwickeln zu können. „Man muss auf die Betroffenen reagieren. Wenn wir nicht auch ähnlich wie bei sichtbaren Behinderungen hier für ein barrierearmes Leben sorgen, verlieren wir wertvolle Menschen“, ist sich Thomas Eilers sicher. Seine und die Ideen seiner Kollegin Christin Lippmann sind, dass man sich Zeit lässt für Autisten, um deren Entwicklungspotentiale zu erkennen, Stärken zu fördern und die Schwächen versucht abzufedern. „Normale“ Schul- und Ausbildungszeiten reichten nicht aus, sind auch in ihren starren Konzepten mit festen Zeiteinheiten und langen Bildungstagen für die meisten Autisten nicht aushaltbar.

Bei Marvin, wie bei den vielen anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern im BTZ Leipzig sowie in den Umschulungsmaßnahmen des BFW Leipzig, setzt sich diese Methode bislang erfolgreich durch. Der 21-jährige Marvin wird im Sommer seine Ausbildung zum Fachpraktiker für Bürokommunikation abschließen. Er hatte nach den Startschwierigkeiten eine Zukunftsperspektive erhalten: mit der BvB- und der anschließenden IngE-Maßnahme. „Ich bin froh, durch das BFW mich entwickeln zu können“, schätzt Marvin heute ein. „Alles, wie ich mich privat und beruflich weiterentwickelt habe, habe ich dem BFW zu verdanken.“ Er wird nach seiner Ausbildung beruflich durchstarten. Mit Menschen in Kontakt zu kommen, ist eine seiner Stärken, die das Team im BTZ Leipzig zusammen mit Marvin entwickelt haben. Sein neues Lebensmotto hat er von Bildungsbegleiter Thomas Eilers für die Zukunft mitbekommen: „Hilfe suchen, Hilfe annehmen, ist keine Schande.“ Davon wird er im Job profitieren können. Davon ist Marvin heute schon nach Wochen des Praktikums überzeugt.
9.567 Zeichen
Erstellt: Michael Lindner/BFW Leipzig

Bildmaterial:
BU: Marvin (Mitte mit Zeugnis) bei der Überreichung einer Leistungsauszeichnung im Juni 2019 mit dem damaligen Betreuerteam aus dem BTZ Leipzig (l: Marko Daubitz, 2.v.r. Thomas Eilers). © M. Lindner, BFW Leipzig

Kontakt