„Alles dicht in NRW“ ist ein Tatsachenbericht von Siegfried Genreith, erschienen im Verlag BoD, Norderstedt, im März 2019.
Die Handlung beschreibt die Erfahrungen des Autors als Begründer einer landesweiten Initiative gegen ein Gesetz von 2007 in NRW, das umfassende Prüfungen und teure Sanierungen privater Abwasserleitungen vorschrieb, die für viele Bürger existenzgefährdend waren.
Der Autor schreibt in der Gegenwartsform. Nach einem kurzen Prolog stimmt zunächst eine fiktive Geschichte auf das zugrundeliegende Thema der sogenannten „Dichtheitsprüfung“ ein. Danach erzählt die „wahre Geschichte“ anhand vieler Quellen, Zitate und Originaldokumente die Entwicklung einer der größten Protestwellen in NRW der letzten Jahre von Anfang an. Was im Jahre 2010 als persönlicher Akt der Verzweiflung beginnt, zieht schnell weite Kreise in ganz NRW und darüber hinaus. Zu Beginn sieht es keineswegs danach aus, als könne die Initiative irgendetwas bewirken. Nach und nach stoßen weitere Aktivisten dazu und ein landesweites Netzwerk nimmt langsam erste Formen an. Eine bedeutende Öffentlichkeit kann schließlich über ein Dialogforum der Landesregierung hergestellt werden. Der Autor nimmt im April 2011 an einem Live-Talk mit der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft in der Staatskanzlei Düsseldorf teil. Danach geht es Schlag auf Schlag. Presse und TV berichten, immer mehr lokale Initiativen entstehen und schließlich nehmen die ehemaligen Regierungsparteien FDP und CDU nach und nach Abstand von ihrer eigenen politischen Entscheidung. Die Neuwahl 2012 macht die Träume der Aktivisten auf einen schnellen Erfolg zunichte. Die Geschichte dreht sich nun weiter um die rasch wechselnde Nachrichtenlage, um massive Einflussnahmen durch Lobbyisten und um die dramatische Entwicklung bis hin zu einem Machtwort der Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, das die Diskussionen innerhalb der Rot-Grünen Regierung für‘s Erste beendet. Das Gesetz wird im Frühjahr 2013 gestrichen und erst am Jahresende teilweise durch andersartige Regelungen ersetzt. Diese unendliche Geschichte dauert allerdings bis in die Gegenwart an.
Das Buch ist von Anfang an klar gegliedert. Ein Inhaltsverzeichnis verrät mit treffend gewählten Überschriften im Grunde schon den Verlauf der Erzählung. Die „fast wahre Geschichte“ der Einleitung stellt auf wenigen Seiten die Grundproblematik dar. Genreith setzt die Fiktion durch eine handschriftartige Schriftart angenehm von der eigentlichen Chronologie ab. Schon diese fiktive Geschichte ist spannend und flüssig in der Art eines Tagebuchs erzählt mit einer Spur von schwarzem Humor. Zusätzliches Hintergrundwissen ist danach nicht mehr erforderlich.
Der Leser verliert an keiner Stelle den Faden bei manchmal vielen Details, die Genreith so in den Fluss der Geschichte einbettet, dass keine weiteren Erklärungen notwendig erscheinen. Die Verwendung nur der Vornamen für einige der Aktivisten kann für Verwirrung sorgen, wenn man den Text nicht von Anfang an liest. Ansonsten ist ein gutes Gedächtnis von Vorteil. Trotz vieler Zitate aus einem umfangreichen Schriftverkehr und aus anderen Originaldokumenten bleibt der Fluss der Erzählung intakt. Genreith gelingt der schwierige Balance-Akt zwischen Authentizität und Spannung recht gut. Der Erzählstil im Präsens lässt die Ereignisse außerordentlich lebendig wirken und versetzt den Leser schnell mitten hinein in diesen wahren Krimi mit allen Gefühlen der Beteiligten von Niedergeschlagenheit und Verzweiflung bis hin zu Euphorie und Siegestaumel.
Die Rolle seiner Initiative, die wie das Buch den Namen „Alles dicht in NRW“ trägt, arbeitet er im Verlauf der Geschichte deutlich heraus. So wird bald klar, dass er das Netzwerk zwar in Gang gesetzt hat und es weiterhin beeinflusst, aber keineswegs steuert. An einer Stelle beschreibt er die Organisation der Proteste als „Flohzirkus“, der nicht in den Griff zu bekommen ist. Aber das will er auch gar nicht und es stört ihn auch kaum. Die Rolle seiner Initiative sieht er als Katalysator, der bei geringstmöglichem Mitteleinsatz ein Maximum an Wirkung entfaltet. Solche Gedanken am Rande sorgen zusätzlich für eine Auflockerung der strengen Chronologie der Ereignisse. Genreith fragt, wie ein solches Netzwerk ohne zentrale Steuerung denn überhaupt funktionieren kann. Da geht es um Selbstorganisation, um Chaos, um Verfahren der Künstlichen Intelligenz, die er als Mathematiker fachlich durchdringt und die er hier erfolgreich am Werk sieht. Eher nebenbei skizziert er Handlungsempfehlungen für ähnliche Protestbewegungen.
Im Verlaufe der Erzählung platziert Genreith immer wieder zugespitzte politische Botschaften. Die damalige rot-grüne Landesregierung kommt dabei naturgemäß nicht gut weg, aber auch die taktischen Spiele der Oppositionsparteien erregen immer wieder seine Kritik: „Immerhin ist die Opposition uns Amphibien noch wohlgesonnen. Ich mache mir über die Motive keine Illusionen. Natürlich haben die ihre eigene Agenda im Hinterkopf, für die wir derzeit durchaus nützlich zu sein scheinen. Vorläufig aber kann deren Vorgehen unseren Interessen nur dienlich sein.“ Mehrfach betont er, ein zutiefst unpolitischer Mensch zu sein. Insgesamt gelingt diese Selbstdarstellung dann nicht wirklich überzeugend. An mehreren Stellen spricht er von einem grundsätzlichen Vertrauensverlust in die aktuelle Politik, von seiner Desillusionierung über die Rolle der Presse und anderer gesellschaftlicher Institutionen. Spätestens am Ende der Geschichte wird dem Leser klar, dass seine Kritik nicht nur einzelne Parteien trifft, sondern grundlegend das System der politischen Willensbildung.
Die Tendenz zur Systemkritik wird gerade im letzten Teil des Buches überdeutlich. Je nach persönlicher Einstellung können manche Formulierungen auf einige Leser verstörend wirken. So sieht er bei vielen großen Organisationen ein „verstecke Agenda“ am Werk, die dazu führt, dass Worte und Taten weit auseinanderklaffen. Gerade im letzten Absatz weitet er dann seine Kritik ausdrücklich über die Kernproblematik des Buches hinaus aus. So schreibt er „Die vergangenen Jahre haben mich desillusioniert zurückgelassen und mein Urvertrauen darin zerstört, dass Politik letztlich den Menschen dient.“ Und so ist mir selbst bei Genreiths Schlusssatz, den er direkt an die jetzige schwarz-gelbe Landesregierung richtet, nicht ganz klar, ob es sich dabei um eine schlichte Feststellung handelt, oder schon um eine unterschwellige Drohung: „Noch haben Sie es in der Hand!“
Der Epilog schließlich glänzt nicht nur mit einem umfangreichen Quellenverzeichnis. Genreith bringt hier auch seine Kritik noch einmal mit teils überspitzten Formulierungen auf den Punkt. Gerade der SPD, der er sich vermutlich einmal verbunden fühlte, schreibt er einige Anmerkungen ins Stammbuch, die nicht jedem Leser gefallen dürften.
Insgesamt halte ich die Erzählung für eine gelungene Mischung aus nacktem Tatsachenbericht und spannender Unterhaltung mit einem Schuss Humor. Fakten und Meinung sind immer klar als solche erkennbar. Für das Buch bedeutet dies aus meiner Sicht eine klare Kaufempfehlung.