Am vergangenen Montag wurde die Hauptfigur dieser Demonstrationen, der 39-jährige arbeitslose Nasser Zefzafi, festgenommen. Ihm werden u. a. Gefährdung der inneren Sicherheit und verfassungsfeindliche Betätigung vorgeworfen. Zuvor kam es u. a. anlässlich des Freitagsgebets zu einem Vorfall, bei dem Zefzafi eine Moschee stürmte, die Predigt eigenmächtig für nichtig erklärte und somit das Freitagsgebet schließlich zum Erliegen brachte.
In der Region gibt es tatsächlich noch Nachholbedarf. Eine kleine Minderheit skrupelloser Lokalpolitiker bereichert sich und schafft einen tiefen Graben zwischen sich und dem Rest der Bevölkerung. Geschäftemacherei ist eine üble Gewohnheit. Manche lassen sich nicht wählen, um die Bevölkerung zu repräsentieren, sondern um finanzielle Geschäfte abwickeln zu können. Als Bürger des 21. Jahrhundert haben die Bewohner dieser Region daher das Recht darauf, zu sagen, was sie sagen wollen. Wenn es jedoch zu Überschreitungen der normativen Grenzen des Demonstrationsrechts kommt, greift die Justiz ein. Zu Recht! Demonstrationen können und müssen verboten, durch bestimmte Auflagen eingeschränkt oder aufgelöst werden, soweit dies zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung erforderlich ist. Die Teilnehmer der Proteste in Al Houceima eignen sich gerade eines der wichtigsten Merkmale einer Demokratie -nämlich das Demonstrationsrecht- an; allerdings müssen gleichzeitig lernen und darauf achten, dass dieses Recht nicht absolut ist und gesetzlichen Schranken unterliegt.
Es ist sicherlich auch nicht auszuschließen, dass hier und da übereifrige Polizisten sich -teilweise menschenverachtende- Übergriffe erlauben. Diese Art von Übergriffen hat es in den vergangenen Tagen und Wochen sicherlich auch in Al Houceima gegeben. Dafür müssen die verantwortlichen Polizeibeamten zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt werden. Fakt ist jedoch, dass es im Allgemeinen in den marokkanischen Kommissariaten keine Folter mehr, keine willkürlichen Verhaftungen und keine politischen Gefangenen mehr gibt. Marokko ist zwar weit von einem perfekten Modellstaat entfernt, doch in den vergangenen Jahren wurden Fortschritte deutlich sichtbar.
Das soll nicht heißen, dass alles im nordafrikanischen Königreich wunderbar ist. Das große Problem Marokkos ist sicherlich die Korruption. Der König hat eine Kommission zur Bekämpfung der Korruption ins Leben gerufen. Die Arbeit dieser Kommission gestaltet sich jedoch bei genauerem Hinsehen als schwierig, denn Korruption hinterlässt meistens keine Spuren, also gibt es keine Beweise. Die Funktionsweise der Justiz ist daher auf diesem Feld sehr eingeschränkt.
Einen Konflikt auf regionaler Ebene und die damit vermeintlich einhergehende Benachteiligung von Minderheiten mag zwar aus westlicher Sicht immer plausibel erscheinen. Die Realität im Norden Marokkos sieht jedoch anders aus. Dass die Bewohner von Al Houceima in ihrer politischen Teilhabe nicht als benachteiligt betrachtet werden können, ergibt sich aus dem Umstand, dass sie die praktisch gleichen Verhältnisse aufweisen wie die anderen Bevölkerungsangehörigen Marokkos. Ausgehend von den Merkmalen Anzahl der Repräsentanten in der Regierung, Armee und Staatsapparat lässt sich kein Unterschied zwischen den Bewohnern der Region und der übrigen marokkanischen Bevölkerung feststellen. Im Gegenteil: Kenner der politischen Szene in Rabat wissen, dass Politiker aus der Region um Al Houceima sogar überproportional in der politischen Landschaft vertreten sind. So stammen u. a. die derzeitigen Minister des Inneren, der Justiz und der Gesundheit unmittelbar aus der Region. Gleiches gilt für den jetzigen Präsidenten der zweiten Kammer sowie den Parteichef der größten Oppositionspartei PAM, der zugleich die politischen Geschicke der Region „Tanger-Tétouan-Al Houceima“ leitet. Trotz der großen Zahl von Bevölkerungsgruppen, Sprachen und Dialekten in Marokko, haben interethnische Spannungen in der marokkanischen Geschichte und Entwicklung zu keiner Zeit eine Rolle gespielt. Daran hat sich bis heute auch nichts geändert.
Staaten, die dem Königreich nicht wohlgesonnen sind, spekulieren über ein Aufkeimen eines zweiten Arabischen Frühlings. Hierzu zählt der algerische Nachbar, der in seinen staatlich gelenkten Medien die Stimmung gegen das Königreich künstlich aufheizt. Dadurch wird jedoch nur unnötig Öl ins Feuer gegossen und üble Stimmungsmache betrieben. Die algerische Staatsführung versucht dadurch die Demonstrationen zu instrumentalisieren und strategisch zu nutzen. In Wirklichkeit geht es dem Militärregime in Algier ausschließlich um eigennützige Motive. Eine genauere Betrachtungsweise der Rolle Algiers würde zweifellos zum dem Ergebnis führen, dass Algier nichts weiter als die Rolle eines Störenfrieds einnimmt.
Es besteht Anlass zur Hoffnung, dass Al Houceima sich in Richtung Modernität, relativer Wohlstand und sozialer Fortschritt bewegen kann. Die Zentralregierung in Rabat wird sich sicherlich kurzfristig darum bemühen, großangelegte, umfassende Entwicklungsprozesse insbesondere in der Infrastruktur einzuleiten, durch die Al Houceima näher an die gutentwickelten Provinzen Marokkos und somit auch an europäische Verhältnisse heranrückt. Die Ziele werden ehrgeizig sein: Die Provinz als ein Raum, der von Frieden, Sicherheit, Wohlstand, Rechtsstaatlichkeit und Angleichung von Standards gekennzeichnet ist, soll Gegensätze abbauen und die Regionen des Königreichs einander näher bringen. Nur in einem Klima der Ruhe kann Al Houceima als Markt für inländische und ausländische Investoren gedeihen. Es wird allmählich ein gemeinsamer regionaler Rahmen wachsen, der die Gestalt der Region verändern wird, und zwar zu allererst im Bewusstsein der Einwohner.